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Was trägt, wenn der Sturm tobt?

Geschrieben von Greti Wüthrich | 295. Oct 2025

Ein Abenteuer, das sich auf dem See Genezareth abspielte, entfaltete nachhaltig Wirkung: Weil es die Beteiligten mit allen fünf Sinnen erlebten. Bis heute offenbart es überraschende Perspektive auf uns – und unser Gegenüber, wie die systemische Supervisorin Greti Wüthrich schreibt.

Was ist der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens? Was ist es, worauf ich mich in stürmischen Zeiten stütze, was gibt mir Halt?

Was ist in unserer Gesellschaft, unserem Umfeld oder unserer kleinen Welt relevant, was ist aktuell? Welche Sachen und Handlungsweisen gelten als altbewährt? Hat das, was ich glaube und wofür ich eintrete, eine öffentlich-allgemeine Relevanz?

Das sind viele Fragen, die uns unverzüglich zu unserem Umfeld und unserem Ich führen.

Aktuell oder relevant?

Wer zuhause Teenager hat, kennt möglicherweise diesen Satz: "Mama, ich erkläre dir die Bedeutung des Wortes. Du darfst dieses Wort hinterher jedoch unter keinen Umständen benutzen!" Immer im Monat Oktober wird das neue Jugendwort des Jahres gekürt. Das Thema ist also aktuell. Ob es für mich auch relevant ist, hängt davon ab, ob zuhause, an meinem Arbeitsplatz oder in meinem Umfeld Teenager oder Jugendliche anzutreffen sind, mit denen ich unterwegs bin. Aktualität und Relevanz sind also nicht deckungsgleich.

Ist der christliche Glaube aktuell und relevant? Oder nur altbewährt? "Altbewährt" wird auch als unumstritten verlässlich, gültig und erprobt umschrieben. Wir von LabOra glauben ganz stark, dass Gebet und Arbeit miteinander verknüpft werden können und sollen. Wir wünschen uns, von Gott in unserem Alltag geprägt und geleitet zu werden. Christen fassen immer wieder den Mut, ihren Glauben auf den Prüfstand zu stellen. Dabei zeigt sich mit erstaunlicher Verlässlichkeit, dass christliche Spiritualität mehr ist als ein als blosser Placeboeffekt (= therapeutische Wirkung nach Scheinbehandlung).

Was mich als Person ausmacht, ist jedoch viel weiter gefasst. Mein Leben wird durch Erfahrungen und Erlebnisse geprägt, neben dem, was ich schon in die Wiege gelegt erhalten habe. Wie und wo ich aufgewachsen bin, wer meine Eltern und Bezugspersonen waren und sind, haben meine Empfindungen und mein Denken geformt und prägen es heute.

Eine Geschichte, die bewegt

Diese Gedanken führen mich zu einer altbekannten Geschichte, die ich sehr mag. Ich habe sie hier etwas ausgeschmückt. Sie handelt von einer für die beteiligten Personen lebensprägenden Erfahrung mit gruppenbildendem Charakter. Taucht mit mir in die Szenerie ein.

Ein Chef schickt seine Mannschaft voraus. Er muss noch etwas erledigen und darum bleibt er allein zurück. Das Verkehrsmittel ist in diesem Fall ein kleines Boot, mit dem seine Mitarbeiter ein grösseres Gewässer überqueren sollen. Das Wetter ist gut, die Stimmung auch. Sie haben soeben durch wunderbare Art und Weise Essen erhalten. In ihrer Gruppe gibt es einige sehr geübte und kräftige Ruderer.

Sie sind etwa in der Mitte dieses grossen Sees angekommen, als unvermittelt ein grosser Sturm tobt. Dass es hier Stürme geben kann, wissen diese Leute. Trotzdem sind sie von der Wucht von Wind und Wellen herausgefordert. Sie hatten schon einmal so eine Situation. Sie erleben also im Grunde eine Wiederholung – nur, dass dieses Mal ihr Chef nicht dabei ist. (Wo ist der Chef, wenn man ihn braucht?!)

Mitten im Sturm

Die Sache ist ihnen immer noch peinlich, also geben sie sich dieses Mal Mühe, Ruhe und Vertrauen zu bewahren. Sie rudern trotz aussichtsloser Situation weiter und hoffen darauf, dass alles gut kommt. Der Erfahrenste der Gruppe spürt instinktiv, dass es sich hier um einen Test handeln muss. Er kann nicht glauben, dass es ihrem Meister einfach so passiert ist, dass sie in einen solch üblen Sturm geraten. Seine Intuition und Feingefühl schlagen jede Wetter-App oder Kristallkugel. Auch Schadenfreude ist so gar nicht seine Art. Trotzdem: In diesem Moment Ruhe und Vertrauen zu behalten, fällt schwer.

Sie sind alle völlig durchnässt, die Muskeln schmerzen vom Rudern, sie sehen nur riesige Wellen und Grautöne, das nächste Ufer ist nicht in Sicht. Der Wind heult schrecklich und das Boot knirscht gefährlich. Es riecht nach Gischt und nassen Bohlen-Brettern und der Mund hat schon wiederholt Wasser geschluckt.

Während die Gruppe also gegen Wellen, Wind, Sturm und die eigene Angst kämpft, sehen sie plötzlich eine Person auf sie zukommen. Einfach so, über Sturm und Wellen. Das ist jetzt zu viel. Sie beginnen zu schreien. Das vermeintliche Gespenst entpuppt sich als ihr Chef. Natürlich braucht das Grossmaul ihrer Gruppe noch eine Mutprobe. Seine Wasserlauf-Fähigkeiten scheitern in dem Moment, als sein Fokus vom Chef weg auf Wind und Wellen geht. Kaum sind die beiden im Boot, ist der Sturm vorbei und der See spiegelglatt. Weil sie alle tropfnass, ausser Atem sind und schmerzende Hände und Arme haben, zeigt ihr Körper ihnen mit jeder Faser, dass sie dieses Ereignis nicht geträumt haben können. Sofort ist allen Beteiligten klar, dass ihr Chef mehr ist als ein Leiter und Mentor.

Für alle fünf Sinne

Die etwas weniger ausgeschmückte Geschichte lässt sich nachlesen in Matthäus 14 ab Vers 22. Bemerkenswert daran ist, dass die Mannschaft diese Fahrt auf dem See durch Sturm und Wind mit allen fünf Sinnen erlebt hat: Sehen, Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken. Es handelt sich um ein so eindrückliches Erlebnis, dass es nicht mehr vergessen werden kann. Wo wir mit all unseren Sinnen dabei sind, sind wir wirklich präsent. Es prägt sich tief in uns ein. Mit keinem anderen Erlebnis hätte Jesus besser die Gewissheit im Leben dieser 12 Männer verankern können, dass er vertrauenswürdig ist und alle Macht hat.

Sehen – Hören – Fühlen – Riechen – Schmecken: Unsere Sinne verbinden unser Erleben als Wahrnehmung mit unserem Körper, mit dem Hier und Jetzt, mit diesem Moment. Unsere Sinne sind unser Tor zur Aussen- und Umwelt. Sie laden uns ein, über die einleitenden Fragen nachzudenken. Welches Er-Leb-Nis hat mich besonders geprägt und ist haften geblieben?

Wer sich und seine Welt in diesem Sinne kennt, erkennt Unterschiede in Wahrnehmung und Denken. Er findet sich so in der Welt seines Gegenübers besser zurecht und kann zielgerichtet auf diese zugehen.

Meine fünf Sinne habe ich von meinem Schöpfer: Das nächste Mal, wenn die Sonne durchs Fenster scheint und mein Gesicht wärmt, während die Kaffeemaschine brummt und der Duft und Geschmack dieser köstlichen Brühe meine Seele erfreut, da denke ich an Psalm 139, 14: "Ich danke dir dafür, dass ich so wunderbar erschaffen bin, es erfüllt mich mit Ehrfurcht. Ja, das habe ich erkannt: Deine Werke sind wunderbar!"

 

Greti Wüthrich ist CPO bei der Stiftung LabOra und systemische Supervisorin.